Der Sarkophag

Der erste Sarkophag über dem havarierten Reaktor 4, wurde am 15. November 1986 nach 206 Tagen fertig gestellt. Errichtet hatten ihn rund 90.000 Liquidatoren. Sie arbeiteten unter lebensgefährlichen Bedingungen in Tag- und Nachtschichten rund um die Uhr und trugen ausnahmslos alle körperliche Schäden davon. Dennoch handelte es sich nicht ausschließlich um zwangsrekrutierte Helfer, sondern auch um Freiwillige, die ihrem Land so auf besondere Art eine Verbundenheit zeigten, die man nur bewundernswert nennen kann. Erdacht hatte man das beeindruckende Bauwerk mit der Höhe eines zwanzig Stockwerke messenden Hauses für etwa 30 Jahre, wobei es sich dabei um eine grobe Schätzung handelte. In dieser Zeit setzten ihm äußere, nicht planbare Umstände zu. In wie weit, dazu scheiden sich die Geister. Befürworter des neuen, bereits im Bau befindlichen Sarkophags, beschrieben über die Jahre die alte Hülle immer wieder als undicht und Einsturzgefährdet. Man begründete diese Vermutung mit lokalisierten Mikrorissen und Materialverschiebungen. Im November 2009 begann man schließlich, sich den erfassten „Risikogebieten“ anzunehmen, nachdem bei den regelmäßig durchgeführten Messungen Strahlenleistungen von 20 Sievers pro Stunde für neue Schlagzeilen um die Gefahr aus Tschernobyl sorgten. Zudem stellte man nun auch die Dichtigkeit der Hülle an sich in Frage. So sickern nach Schätzung von Experten jährlich bis zu 2.000 Kubikmeter Regen- und Tauwasser durch die entstandenen Spalten in den Reaktor.

Der 170 Meter lange und 66 Meter hohe Sarkophag, verschlang nach offiziellen Angaben rund 300.000 Tonnen Beton und ca. 7000 Tonnen Stahl, wobei dazu die Zahlen stark schwanken. So schrieb der damalige Premierminister der UdSSR N.I. Ryzhkovt in seinem 1995 in Moskau erschienen Buch zum Bau des Sarkophags: „Das erste Mal wurde in der Welt unter kompliziertesten Bedingungen ein phantastisches Gebäude errichtet, für das 400.000 m3 Beton und 7.000 Tonnen Metallkonstruktionen verwendet wurden“. In seinem 1996 erschienen Buch „Beton der Marke Sredmasch“ schreibt I.A. Beljaew hingegen zum Bau des Sarkophags: „Innerhalb von vier Monaten waren es mehr als 400.000 m3 Beton, die gebraucht wurden und 600.000 m3 Schotter und 7.000 Tonnen Metallkonstruktionen“. Beljaew war einst in der Arbeitsgruppe des Atomministeriums zum Bau des Sarkophags, weshalb gerade er es eigentlich hätte wissen müssen. Fast zeitgleich zu seinem Buch, veröffentlichte L.S. Kaybysheva, eine ehemalige Mitarbeiterin des „Zentrum für wissenschaftlich-technische Information über Energetik und Elektrifizierung“ ein Buch mit nahezu identischen Angaben, in dem sie von mehr als 400.000 m3 Beton, 600.000 m3 Schotter und ebensoviel Sand wie Schotter schrieb. V.Simanovskij, ehemaliger Chef des St. Petersburger Instituts VNIPIET, sprach in einer wissenschaftlich-technischen Konferenz am 30. November 2001, die anlässlich des 15. Jahrestages der Errichtung des Sarkophags im Atomministerium stattfand, von 440.000 m3. VNIPIET war 1986 der Hauptplaner des Sarkophags. Auch die deutsche Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) nennt bis heute 400.000 m3 Beton, die in den alten Sarkophag eingingen – völlige Utopie.

Würde man die Angaben zu Beton und Schotter addieren, wären das schon 1.000.000 m3. Zuzüglich des Sandes, ergäben sich 1.600.000 m3 Material, die angeblich in den Bau einflossen. Zur besseren Veranschaulichung: Ein Würfel bestehend aus 1.600.000 m3 Material, hätte eine Kantenlänge von 117 Metern. Dazu käme das Volumen der Reaktorruine, deren rund 1000 Räume nicht alle zubetoniert sind – unter anderem auch der riesige Reaktorsaal. Die angegebenen Materialmengen sind daher rechnerisch belegbar falsch, bzw. pure Phantasie. Es spricht viel dafür, dass tatsächlich kaum mehr als 40.000 m3 Beton im Sarkophag stecken. Der Grund für die vielen unterschiedlichen Zahlen, liegt in der hohen Geheimhaltungsstufe zu allen Belangen des Sarkophag. Weshalb die Mengen jedoch so maßlos übertrieben publiziert wurden, bleibt unklar. Man spekuliert jedoch, dass einige Baufirmen die Gunst der Stunde nutzten und mehrfach Rechnungen für Material ausstellten, das in Wirklichkeit nicht existierte.

Fakt ist jedoch, dass der verwendete Beton aus feuerfesten anorganischen Polymeren besteht. Er wurde vom Institut für Materialwissenschaften der UdSSR entwickelt. Für die benötigten Mengen, errichtete man extra eine Zementfabrik neben dem Meiler. Damals schlugen russische Ingenieure insgesamt 18 Varianten für die Hülle vor. Man schwankte zwischen einem hermetisch abgeschlossenen Bauwerk in Form einer Kuppel oder eines Bogens und der Variante, möglichst viel von der Substanz des zerstörten Gebäudes zu nutzen. Letztlich erlag man dem Charme der zweiten Variante aufgrund der niedrigeren Kosten und der vergleichsweise kurzen Konstruktionszeit. So errichtete man auf der nördlichen Seite des Reaktors eine Kaskadenwand, die aus 4 Betonstufen besteht und bis an das Dach reicht. Ihr unterer Bereich hat eine Dicke von bis zu 20 Metern. Neben kontaminiertem Erdboden wurden dort auch Teile des Reaktorkerns und des Reaktors selbst einbetoniert. Die weitestgehend erhaltene Westwand des Gebäudes schützt eine äußerlich angebrachte Stahlhohlwand. Als Stützkonstruktion für das Dach des Sarkophags wurden sowohl die Westwand als auch die zwei auf der östlichen Seite befindlichen Luftschächte aus Stahlbeton verwendet. Darauf kamen zwei Stahlträger, auf denen Stahlrohre mit einem Durchmesser von 1,20 Metern die Hauptstütze für das aus Stahl- und Dachplatten aufgesetzte Dach bilden, das südlich in das des Maschinenhauses übergeht. Auf Behelfsfundamente und Teile des Reaktors gestützt, wurden an der Südseite 2 große Stahlträger eingezogen. Eine zugegeben Baustoff sparende Bauweise, die jedoch gewisse Risiken barg. Man wusste nicht, wie weit die verbliebene Struktur stabil war und das barg die Gefahr eines nicht dichten Abschlusses des Bauwerks. Bedenken, die der gewählten Vorgehensweise wegen jedoch verworfen wurden, da der durch das gemeinsame Maschinenhaus und das Hilfsanlagengebäude mit Block 4 verbundene Nachbarblock so seiner sonst unweigerlichen außer Betriebnahme entging. Die nötigen Pumpen für die Unmengen Beton lieferte die schwäbische Maschinenfabrik Putzmeister GmbH in Aichtal. Dabei handelte es sich um sieben Autobetonpumpen und drei großvolumige Anhängerbetonpumpen im Wert von 11 Millionen Mark. Sie konnten bis zu 150 Kubikmeter Beton je Stunde fördern, um den Sarg zu gießen und verfügten über einen kompletten Strahlenschutz für Maschinen- und Führerhaus, sowie zwei schwenkbare Kameras (eine am äußersten Arm der Pumpe und eine auf einem Stützbein, mit der sich das platzieren des Betons und der Füllvorgang überwachen ließ). Zwei Fernbedienungen, eine Funk- und eine Kabelgebundene, ermöglichten für die Bediener der Pumpen einen weniger strahlenbelasteten Auf- und Abbau der Pumpanlage aus einer Entfernung von bis zu 600 Metern per Kabel und bis zu 1000 Meter über die Funkfernbedienung. Einen Fachmann der Firma Putzmeister suchte man dennoch vor Ort vergebens. Die Bedienung übernahmen die russischen Fahrer, deren Arbeitshilfe lediglich aus ausführlichen Betriebsanleitungen bestanden.

Nachdem sich die Westwand des Reaktorgebäudes mit der Zeit neigte, wurde sie von 2002 bis 2008 durch ein Stahlgerüst abgestützt. Man entschied sich für eine bewegliche Sanierungsvariante, die sich im Falle einer erneuten Absenkung des Sarkophag mit dem Gerüst neigt. Der damalige Bauherr, die Pivdenteplomontazh AG, stellte an die dazu notwendigen Kalottenlager der Firma Maurer MSM zur Auflagerung dabei hohe Anforderungen – so hohe, dass sie weltweit sonst kein Hersteller erfüllen konnte. Ihre Lebensdauer sollte der Lebensdauer des Bauwerkes entsprechen. Zudem musste Maurer garantieren, dass ihre Lager der hohen radioaktiven Strahlung permanent ausgesetzt werden dürfen. Um die horizontale Einwirkung auf die Schutzschächte so klein wie möglich zu halten, musste die Reibung in den Lagern über ihre gesamte Lebensdauer unter 3% liegen. Das hatte den Hintergrund, dass nach der Explosion neben dem Zustand der Schächte, auch deren Tragfähigkeit nicht ausreichend untersucht werden konnte. Die Aufgabe der 8 Kalottenlager des Typs KGE 1750 kN lag daher hauptsächlich darin, die alte Konstruktion möglichst flexibel zu entlasten. Zu diesem Zweck setzte man auf die Ventilationsschächte Stahltürme mit Konsolen, die bis heute sicher auf ihnen ruhen und die Westwand stabilisieren.

Am 24. April 2009 veröffentlichte die deutsche Strahlenschutzkommission einen Untersuchungsbericht, nachdem sich zum Zeitpunkt der Analyse 180 Tonnen Kernbrennstoff im havarierten Reaktor befanden. Die Deutsche Gesellschaft für Strahlenschutz wiedersprach diesen Ergebnissen wehement. Sebastian Pflugbeil nannte die Ergebnisse in seiner damaligen Funktion als Präsident unseriös und reine Geldmacherei. Zudem sagte er: „Sollte der Sarkophag einstürzen, wird zwar eine radioaktive Wolke frei, aber die bliebe auf das Gebiet des Kraftwerks beschränkt. Weder die Ukraine noch ein anderes europäisches Land, bekämen davon etwas mit.“

Konstantin Tschertscherow, einer der führenden russischen Atomphysiker, denkt ähnlich. Er geht davon aus, dass 95 Prozent des Kernbrennstoffes damals schon während des Unglücks entwichen. Seine These, der auch wir hier stark gewogen sind, klingt zwischen den unüberschaubar vielen Tests, Vorwürfen und destruktiven Darstellungen der letzten Jahre am plausibelsten. Nicht zuletzt, weil er schon über 1000 mal im inneren des Kerns war und sogar mehrfach zum Reaktorschacht vordrang. Zudem überzeugt seine Behauptung, der Kern sei samt Brennelementen und Steuerstäben wie eine Rakete durch den Reaktordeckel geschossen, auch von seiner Logik her. Tschertscherow geht davon aus, dass sich der Kern etwa 50 Meter in den Nachthimmel erhob, wo er schließlich in der extremen Hitze vollständig verdampfte. Das würde erklären, warum von den Brennstäben in Block 4 jede Spur fehlt und die Nordhalbkugel direkt nach dem Unglück einer so hohen Strahlenmenge ausgesetzt war.

Am 12.02.2013 gab die Maschinenhalle des havarierten Reaktors in Tschernobyl offiziell dem Druck enormer Schneemassen nach, worauf die SSE KKW Tschernobyl um 14.03 Uhr westeuropäischer Zeit eine „abnormale Situation“ meldete, nach der es einen Einsturz gab. Der Bruch betraf den Bereich Seitenwand und Dach zur Turbinenhalle bei Achse 50 bis 52. Das entsprach einer Plattenreihe, die an der Turbinenhalle jeweils 12 Meter lang ist. Die Achsen haben zueinander einen Abstand von sechs Metern, gemessen an der Standardlänge der Platten am Reaktorgebäude. 28 Meter über dem Boden erstreckte sich das Loch auf eine Fläche von etwa 600m2 und betraf nur unkritische, nicht gepflegte Räume. An der Strahlensituation änderte sich deshalb nichts. Laut der State Special Enterprise Chernobyl NPP wurde eine Untersuchungskommission eingerichtet, die in den nächsten 14 Tagen einen Bericht vorlegen wird. Da wir aktuell über diese Information aufgrund des heutigen Datums, dem 14.02.2013 noch nicht verfügen können, werden diese Angaben noch ergänzt, sobald ein Ergebnis der Kommision vorliegt.

Die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit hingegen vertritt bis heute die Meinung, die Brennstäbe würden als Bestandteil der Lavamasse, bzw. in Wasser gelöst, tief im Inneren der Ruine schlummern. Und so ranken sich Mythen und Thesen um dieses Bauwerk, deren Richtigkeit erst bewiesen werden kann, wenn eines Tages der Rückbau beginnt – was uns zu dem neuen Sarkophag führt, dessen Errichtung offiziell auch dieses Ziel verfolgt.

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